Cavanis Friseur
·9. Oktober 2020
Cavanis Friseur
·9. Oktober 2020
Juni 2020, Berliner Olympiastadion. Knapp 22 Minuten sind gespielt zwischen Bayer Leverkusen und Hertha BSC, die optisch überlegene Bayer-Elf kratzt an der Führung. Auf der rechten Außenbahn geht Vladimir Darida an Leverkusens Linksverteidiger Wendell vorbei, sieht – knapp 30 Meter vor dem Tor – den mitlaufenden Piatek, der Daridas Pass direkt in den Lauf von Dodi Lukébakio weiterleitet.
Binnen Sekunden ist aus einer kaum gefährlichen Situation an der Außenlinie eine Bedrohung für das Tor von Lukáš Hrádecký geworden, Lukébakio ist bereits tief in Leverkusens Sechzehner vorgedrungen.
Der Belgier legt den Ball mit seinem schwächeren rechten Fuß zurück in den Rückraum – zwar in die ungefähre Richtung von Matheus Cunha, der Brasilianer muss aber abrupt abstoppen, um den Ball zu kontrollieren.
Die Chance sieht vertan aus, Cunhas erster Kontakt wirkt etwas ungelenk, er scheint eher seitlich statt frontal zum Tor zum Stehen zu kommen.
Doch nach der Annahme geht Cunha in eine fließende Bewegung über, dreht sich geschmeidig in Richtung Tor auf – und bringt den Ball mit dem Vollspann im langen Eck unter. In Sekunden wird bei den Zuschauern aus Ernüchterung Ekstase, allerdings nur vor den Bildschirmen. Denn Fans sind nicht zum Spiel zugelassen.
Cunhas herausragende Technik ist mit Sicherheit eine der Stärken, die ihn von der Masse abhebt. Die Grundlagen dafür wurden schon ganz früh gelegt: Als Elfjähriger kam der junge Cunha ins Futsal-Nachwuchszentrum nach Recife.
Mit dem kaum springenden Ball und dem kleinen Feld bietet Futsal quasi optimale Ausbildungsmöglichkeiten. Durch die kleineren Teams kommen die Spieler zu mehr Ballkontakten, die räumliche Enge sorgt für hohen Druck auf den Ballführenden. Der besondere Futsal-Ball ist durch den geringeren Druck träge und langsam. Gemeinsam bewirken diese Faktoren vor allem Eines: Es entwickeln sich eine enge Ballführung und großartige Technik – siehe Matheus Cunha.
Nach knapp drei Jahren zog es Cunha weg aus Recife. Er wechselte nach Coritiba, um seinem großen Ziel, einer Profi-Karriere, näherzukommen. Mit dem Wechsel veränderte sich auch seine Sportart, vom Futsal zum Fußball. Auch wenn Cunha in einem Interview erzählte, eigentlich sei Futsal und nicht Fußball sein Lieblingssport, entschied er sich für die Outdoor-Variante – um eines Tages vielleicht vor Zehntausenden mit den Besten der Welt zu spielen.
Coritiba blieb Cunhas letzte Station in Brasilien, als 18-Jähriger zog er weiter nach Europa ohne überhaupt für Coritibas erste Mannschaft gespielt zu haben. Der FC Sion überzeugte den jungen Brasilianer von einem Wechsel in die Schweiz.
Eine lange Eingewöhnungszeit bei seinem neuen Verein brauchte Cunha in Sion nicht, bereits am vierten Spieltag 2017/2018 stand er zum ersten Mal in der Startelf. Das Spiel gegen den FC Zürich ging jedoch 0:2 verloren, Cunha wirkte unsichtbar.
Das sollte sich aber in den kommenden Monaten ändern: Mit seinen Dribblings riss Cunha für Sion Löcher in die Abwehrketten der Gegner, seine Tore trugen ihren Teil zu Sions solider Mittelfeldplatzierung bei.
Per Kopf, ein Schlenzer mit Links in den langen Winkel à la Robben oder ein Lupfer mit rechts über den hinauseilenden Torwart: Bereits in der Super League deutete Cunha den Umfang seines technischen Repertoires an. Nach nur einer Saison verließ er die Schweiz wieder, wechselte zu RB Leipzig – die mehrere Interessenten aus England ausstachen.
Zum Abschluss lieferte Cunha aber zunächst noch ein Meisterstück. Gegen den FC Thun gelang ihm sein erster (und bis heute einziger) Profi-Hattrick. Danach verabschiedete sich Sions Nummer 70 für 15 Millionen Euro in Richtung Sachsen.
Bei RB tat sich Cunha deutlich schwerer, in der Bundesliga anzukommen. Insbesondere die Physis, die taktische Intensität und Komplexität setzten Cunha zu. Während in einzelnen Momenten seine Klasse aufblitzte (zum Beispiel die Zidane-Roulette mit anschließendem Lupfer ins Tor gegen Leverkusen), lief ein Großteil der Saison eher unbefriedigend für Cunha.
33 Einsätze sammelte er unter seinem Förderer Rangnick zwar, im Kerngeschäft Bundesliga kam er aber vor allem zu Joker-Einsätzen. Zwei Tore gelangen ihm dabei, pro Einsatz kam er gerade einmal auf 34 Minuten. Cunha schien dabei der Startelf gegen Ende der Saison immer näherzukommen.
Zur neuen Saison wechselte RB Leipzig dann den Trainer: Julian Nagelsmann übernahm für Ralf Rangnick, ersetzte das 4-4-2-System durch ein 3-5-2- beziehungsweise 3-4-3-System, in dem kaum Platz für Cunha blieb. Nur 362 Minuten sammelte Cunha für Red Bull in der Hinrunde 2019/2020.
Hinter Poulsen, Schick und Werner, die Nagelsmann gegenüber Cunha vorzog, blieb dem Brasilianer kaum noch Spielzeit. Die nicht (mehr) vorhandenen Flügelstürmer-Positionen taten ihr übriges, der 20-Jährige versauerte auf der Bank.
Cunha wurde zunehmend unzufrieden. Im Winter dann der Wechsel: Am Deadline-Day stellte Hertha BSC den Brasilianer vor, mit einer Ablöse von knapp 18 Millionen Euro war er der zweitteuerste Berliner Winterneuzugang hinter Krzysztof Piatek. Ein bisschen sollte es aber noch dauern, bis Cunha wirklich nach Berlin kam: Zunächst spielte er noch mit der brasilianischen U23 die Olympia-Quali.
Fünf Spiele und fünf Tore später war es so weit, Cunha kam nach Berlin. Jürgen Klinsmann war gerade zurückgetreten, als Cunha mit einer gehörigen Portion Selbstbewusstsein aus Brasilien zurückkam. Sein spektakuläres Hackentor beim Debüt gegen den SC Paderborn wurde zwar als Eigentor eines Gegenspielers gewertet, trotzdem sorgte Cunha quasi mit seiner Ankunft für einen Lichtblick in einer bis dahin düsteren Hertha-Spielzeit.
Neben seiner grandiosen Technik ist Cunha mittlerweile auch robuster geworden, im Eins-gegen-Eins hat er eine beachtliche Durchsetzungskraft. In seiner bisherigen Hertha-Zeit ragt er auch im europäischen Bereich heraus: Mit fast fünf erfolgreichen Dribblings je 90 Minuten liegt er nur hinter Lionel Messi, Neymar, Adama Traoré und Allan Saint-Maximin.
Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang seine Erfolgsquote von fast 80 Prozent: Cengiz Ünder, jüngst von der Roma zu Leicester gewechselt, liegt in seinem Dunstkreis. Andere Spieler mit ähnlich vielen Dribblings liegen teilweise weit hinter Cunha.
Im Jahr 2020 scheint Cunha auch seinen Torriecher wieder gefunden zu haben, der ihm in Leipzig nicht hold gewesen war. In 19 Pflichtspielen gelangen ihm bereits 12 Tore, besonders auffällig ist dabei sein Hang zu Distanzschüssen, gegen Düsseldorf und Union traf er so von außerhalb des Sechzehners.
Das Tor gegen Düsseldorf zeigt auch eine andere Eigenschaft Cunhas: Das Spiel gegen die Fortuna war erst sein drittes Spiel in Blau-Weiß, Hertha lag zur Pause mit 0:3 zurück. Nach der Pause verkürzte Hertha zunächst auf 1:3, ehe Cunha aus gut 25 Metern den Anschluss wiederherstellte.
Sein emotionaler Jubel und die „Weiter jetzt!“-Geste waren etwas, das man bei Hertha bis dahin vermisst hatte. Knapp 10 Minuten später glich Hertha das Spiel noch aus, zum Sieg reichte es aber letztlich nicht mehr.
Der unbändige Wille kann für den jungen Brasilianer aber auch schnell zur Hypothek werden. An schlechteren Tagen versucht Cunha manchmal erst recht viel, gelingen tut ihm dann wenig. Seine Einstellung ist trotzdem bemerkenswert, insbesondere seine Defensivarbeit steht dem Klischee des faulen Offensivzauberers vom Zuckerhut entgegen.
Seine Leistungen des letzten halben Jahres blieben natürlich auch über den Stadtrand Berlins nicht unentdeckt. Paris Saint-Germain soll sich im Sommer zumindest schon nach Cunha erkundigt haben, Herthas Manager Preetz winkte aber sofort ab.
Cunhas Vertrag läuft noch vier Jahre, zudem ist Hertha durch das Windhorst-Geld auch nicht mehr so dringend auf Transfereinnahmen angewiesen.
Auch Inter hatte den Brasilianer als potenziellen Lautaro-Ersatz auf dem Zettel. Da Lautaro aber doch bei Inter blieb, erkaltete auch dieses Interesse zunächst einmal.
Klar ist aber: Wenn Cunha da weitermacht, wo er bisher mit Hertha unterwegs war, werden die Interessenten mehr – und aus Interesse werden vermutlich auch irgendwann konkrete Angebote.
Auch aus Hertha-Sicht positives Interesse an Cunha kommt derweil vom brasilianischen Nationaltrainer Tite, der Cunha für die kommenden Länderspiele nominierte. So oder so wird Cunha im Sommer 2021 wohl für sein Land auflaufen, ob für die A-Nationalmannschaft bei der Copa oder für die U23 bei Olympia.
Neben all den magischen Momenten, in denen Cunha mit seinen Lupfern, Distanzschüssen oder Hackentricks die Fans mit offenem Mund dastehen lässt, sorgt der Brasilianer aber auch ab und zu für Frustration und resigniertes Kopfschütteln.
Seine Entscheidungsfindung ist zuweilen unglücklich und egoistisch – statt einem simplen Abspiel schießt Cunha auch mal aus 22 Metern selbst oder verstrickt sich in einem Gewirr gegnerischer Abwehrbeine. Diese Kehrseite der Medaille fällt aber als Zuschauer wenig ins Gewicht, es überwiegt die Vorfreude – auf das nächste Traumtor oder den nächsten Tunnler.
(Cunha-Titelbild @Getty Images)