90PLUS
·16. Juni 2024
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·16. Juni 2024
Die niederländische Nationalmannschaft befindet sich vor der Europameisterschaft in einem interessanten Spannungsfeld. Der Kader der „Elftal“ verfügt auf nahezu allen Positionen über ein hohes Maß an individueller Klasse, doch die Ergebnisse blieben in den letzten Jahren fast immer auf der Strecke. Gelingt der Mannschaft von Ronald Koeman in Deutschland der Turnaround?
Alleine bei einem ein Blick auf die niederländische Innenverteidigung könnte man sich als Fußballfan an eine Auswahl des „Team of the years“ erinnert fühlen. Virgil van Dijk, Matthijs de Ligt, Nathan Aké, Micky van de Ven – über einen solchen Talentpool verfügt wenn überhaupt noch die französische Nationalmannschaft.
Und dieses Prinzip zieht sich, wenn auch in leicht abgeschwächter Form, durch fast alle Mannschaftsteile. Es gibt kaum eine Position, auf der die Niederländer nicht über einen Akteur von herausragender Qualität verfügen.
Nichtsdestotrotz zählt die Elftal vor der EM-Endrunde wenn überhaupt zum erweiterten, nicht aber zum absoluten Kreis der Top-Favoriten. Die Resultate der vergangenen Turniere ließen fast immer zu wünschen übrig und auch die Länderspiele der letzten Monate machten nicht gerade den Anschein, als würde die Mannschaft von Ronald Koeman im Nachbarland Deutschland um den Titel mitspielen.
Die Zeiten, in denen man die Niederlande als einen DER Titelkandidaten auf dem Schirm hatte, liegen schon ein paar Jahre zurück. Die goldene Generation rund um Spieler wie Arjen Robben, Robin van Persie oder Wesley Sneijder gehörte Anfang der 2010er-Jahre zum Besten, was der Weltfußball zu bieten hatte und gewann mit WM-Silber 2010 und WM-Bronze 2014 gleich zweimal Edelmetall.
Doch schon beim Turnier in Brasilien ließ sich erahnen, dass diese Ära vor einem Ende stand. Die Leistungsträger der Elftal waren zu großen Teilen im fortgeschrittenen Alter und spielten sich mit enormer taktischer Disziplin und auch dank einer Coaching-Meisterleistung von Louis van Gaal ins Halbfinale. Mitte der vergangenen Dekade folgte ein erwarteter Leistungseinbruch, der dann aber wesentlich deutlicher ausfiel, als man dies hätte vermuten können. Die niederländische Nationalmannschaft versank in einer tiefen Krise und verpasste mit der EM 2016 und der WM 2018 gleich zwei große Turniere in Folge.
(Photo credit should read VANDERLEI ALMEIDA/AFP via Getty Images)
Infolgedessen erholte sich Oranje etwas und ließ zunächst mit starken Nations-League-Ergebnissen gegen Frankreich und Deutschland aufhorchen. Vor der Corona-EM 2021 wurde die Mannschaft von Frank de Boer als gar nicht so geheimer Geheimfavorit gehandelt, nur um dann im Achtelfinale mit 0:2 an Tschechien zu scheitern. Bei der WM 2022 in Katar folgte ein Schritt in die richtige Richtung, im Viertelfinale scheiterte der Europameister von 1988 erst nach Elfmeterschießen am späteren Titelträger Argentinien.
Diese Form konnte in den vergangenen Monaten jedoch nicht immer konserviert werden. Die Elftal spielte eine solide, wenn auch keine herausragende Quali und landete nach zwei Niederlagen gegen Frankreich auf dem zweiten Tabellenplatz. Auch die Testspiele verliefen zumeist durchwachsen, so auch der vermeintlich eindeutige 4:0-Heimsieg über Schottland im März, dem allerdings eine lange Zeit schwache Leistung zugrunde lag. „Schlecht, unruhig, schlampig. Es ist eigentlich unglaublich, dass die Schotten nicht getroffen haben. Die Deutschen werden es schaffen“, konstatierte ein sichtlich angefressener Bondscoach Ronald Koeman nach dem Spiel. Und er sollte Recht behalten: Das wenige Tage später stattfindende Spiel in Deutschland verloren die Niederländer verdientermaßen mit 1:2.
Geht man den Gründen für die – vorsichtig formuliert durchwachsenen letzten Jahre – auf den Grund, so kommt man an der Trainerfrage keineswegs vorbei. Auf der Position des Bondscoachs herrscht seit der besagten Weltmeisterschaft 2014 keinerlei Konstanz mehr. In der vergangenen Dekade wurde die Elftal von insgesamt neun verschiedenen Übungsleitern trainiert. Zum Vergleich: Joachim Löw stand 15 Jahre lang an der deutschen Seitenlinie. Auch Didier Deschamps oder Gareth Southgate sind seit zwölf beziehungsweise acht Jahren für ihre Mannschaften zuständig.
Ronald Koeman trainiert die Niederlande bereits zum zweiten Mal, nachdem er von Februar 2018 bis August 2020 der starke Mann des KVNB war. Zur Saison 2020/2021 zog es Koeman dann zum FC Barcelona, wo er allerdings krachend scheitern sollte. Im März des letzten Jahres kehrte der frühere Weltklassespieler zu Oranje zurück. Eine Entscheidung, die von vielen niederländischen Fans und Experten bis heute kritisch beäugt wird.
Koeman hat es auch in seiner zweiten Amtszeit als Bondscoach noch nicht geschafft, ein passendes taktisches System zu finden. In der EM-Qualifikation wechselten die Niederländer zwischen Vierer- und Fünferkette hin und her, wobei man gegen namhaftere Teams wie Frankreich zumeist auf die Fünferkette zurückgriff. Eine favorisierte Formation hat sich auch kurz vor Turnierbeginn noch nicht endgültig herauskristallisiert.
(Photo by Stuart Franklin/Getty Images)
Der fußballerische Ansatz Koemans lässt sich dagegen als „pragmatisch“ beschreiben. Der 61-Jährige agiert häufig aus einer abwartenden Haltung heraus, will defensiv sicher stehen und vorne durch gelegentliche Nadelstiche seiner herausragenden Einzelkönner gefährlich werden. Kritiker werfen dem Bondscoach das Fehlen einer klaren Spielidee und eine uninspirierte Art des Fußballs vor.
Auch sein Umgang mit jüngeren Spielern geriet zuletzt immer wieder in das Fadenkreuz öffentlicher Kritik. So geriet Koeman während der vergangenen Länderspielpause mit Xavi Simons, seinem vielleicht versiertesten Offensivspieler, aneinander. Nach durchwachsener Leistung gegen Schottland zählte der Bondscoach seinen Schützling öffentlich an. „Er war einer der Spieler, die einfach den Ball viel zu oft verloren haben. Xavi ging zu viel Risiko in seinen Aktionen ein, er macht es zu kompliziert. Er muss langsam die Erfahrung machen, dass wir in den Niederlanden nicht davon profitieren, den Ball zu verlieren“, warf Koeman dem Youngster von RB Leipzig vor. Die Nichtnominierung von Joshua Zirkzee vom FC Bologna wurde teils ähnlich negativ aufgefasst. Mittlerweile wurde er nach Verletzungen nachnominiert.
Auf zwei weitere herausragende Individualisten muss Ronald Koeman dagegen verletzungsbedingt verzichten. Mit Mittelfeldmotor Frenkie de Jong und Spielmacher Teun Koopmeiners stehen zwei Säulen des niederländischen Spiels nicht zur Verfügung. Der Bondscoach fand diesbezüglich klare Worte und kritisierte den eng getakteten Zeitplan im internationalen Fußball. „Es geht nicht immer um den Sport. Sie killen die Fußballspieler,“ stellte Koeman in aller Deutlichkeit klar.
Doch auch ohne de Jong und Koopmeiners verfügt die Niederlande auf fast allen Positionen über herausragendes Spielermaterial. Im Tor hat der fußballerisch hochveranlagte Youngster Bart Verbruggen den Zweikampf gegen Mark Flekken gewonnen und wird in Deutschland als Nummer eins an den Start gehen.
Vor ihm verfügt Oranje über Innenverteidiger-Personal der allerhöchsten Qualität. Klar gesetzt ist nur Kapitän Virgil van Dijk, wer neben ihm verteidigt, ist stark von der gewählten Formation abhängig. Mit Lutsharel Geertruida, Nathan Aké, Micky van de Ven und Matthijs de Ligt stehen Spielertypen für sämtliche Defensivformationen bereit.
(Photo by JOHN THYS/AFP via Getty Images)
Auf der rechten Seite kann Koeman zwischen Denzel Dumfries und Jeremie Frimpong entscheiden – zwei Akteure, die wohl jeder andere Trainer dieses Turniers gerne in seinem Kader hätte. Der Leverkusener wurde allerdings zuletzt auch erfolgreich als offensiver Flügelspieler getestet.
Vor der Abwehr sind Joey Veerman und Jerdy Schouten vom niederländischen Meister PSV Eindhoven gesetzt, während Tijjani Reijnders von der AC Mailand auf der Spielmacherposition die Nase vorne zu haben scheint. Ganz vorne wirbelten im abschließenden Test gegen Island Xavi Simmons, Cody Gakpo und Memphis Depay.
Die beiden kürzlichen Testspiele gegen Kanada und die Isländer sind es auch, was den niederländischen Fans Hoffnung bereiten könnte. Beide Partien gewann die Elftal mit 4:0 und präsentierte sich dabei enorm spielfreudig. Mit 22 respektive 20 Torschüssen lieferte die hochbegabte Offensivreihe einen enormen Output und weckt damit Fantasien auf eine erfolgreiche EM-Endrunde. Ist der Niederlande noch rechtzeitig vor dem Auftakt der Turnaround gelungen?
Die beiden Abschlusstests dürften für das Selbstvertrauen der Koeman-Elf von großer Bedeutung gewesen sein, bekommt man es doch in „Todesgruppe“ D mit Frankreich, dem Geheimfavoriten Österreich und Polen zu tun. Gegen zwei starke Gegner wird sich die Elftal ordentlich strecken müssen, um einen Platz im Achtelfinale sicher zu haben.
Positive Auswirkungen könnte das Auftaktspiel gegen das vermeintlich schwächste Team aus Polen haben. Startet die Niederlande mit einem Sieg in die EM und nimmt das Selbstvertrauen mit in die kommenden Begegnungen, so ist dieser auf dem Papier so begabten Mannschaft eine Menge zuzutrauen. Wenn Ronald Koeman seine Schützlinge in Deutschland von der Leine lässt, darf man Orange auf keinen Fall unterschätzen.
(Photo by JOHN THYS/AFP via Getty Images)