90PLUS
·6. Juli 2024
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·6. Juli 2024
Vor dem Viertelfinal-Duell zwischen England und der Schweiz herrscht gewissermaßen verkehrte Welt. Während sich die Engländer mühevoll durch das Turnier quälen, gehören die Eidgenossen zu den positiven Geschichten dieser EM. Ist die Nati gegen das Mutterland des Fußballs sogar Favorit?
Ein Viertelfinal-Aufeinandertreffen zwischen England und der Schweiz war vor Turnierbeginn ein eher unwahrscheinliches, wenn auch nicht gänzlich unrealistisches Szenario. Doch eine Partie unter den aktuellen Vorzeichen haben wohl die kühnsten unter den Schweizer Optimisten nicht hervorsehen können. Ihre Mannschaft gehört bislang zu den beeindruckendsten dieser Europameisterschaft und stürzte im Achtelfinale gar den Titelverteidiger aus Italien. Noch mehr: Die Nati ließ der Squadra Azzura nicht den Hauch einer noch so kleinen Chance.
Selbiges lässt sich von England nicht gerade behaupten. Der mühsame Achtelfinalsieg nach Verlängerung über die Slowakei steht sinnbildlich für die bisherige Performance der Three Lions: Man enttäuscht spielerisch auf ganzer Linie, entwickelt kaum nennenswerte Torgefahr, kommt aber – Stand jetzt – noch irgendwie damit durch. Gegen die Schweiz bedarf es nun einer deutlichen Leistungssteigerung, um den Traum vom ersten EM-Titel der Landesgeschichte nicht vorzeitig begraben zu müssen.
Nach den bisher gezeigten Leistungen lässt sich eines definitiv festhalten: Die Schweiz geht nicht als Außenseiter in das Viertelfinale. Im Gegenteil kann man anhand der letzten drei Wochen fast nur zu dem Schluss kommen, dass die Nati heute Abend das “Team-to-Beat” sein wird. “Wir haben eine breite Brust und fokussieren uns auf unsere Stärken, unabhängig davon, wer der Gegner ist”, erklärte Kapitän Granit Xhaka im Vorfeld der Partie selbstbewusst.
Spannend wird zu beobachten sein, welche Herangehensweise Nationaltrainer Murat Yaykin seinen Mannen mit auf den Weg geben wird. Denn ein großer Trumpf der Eidgenossen ist die bislang so eindrucksvoll unter Beweis gestellte taktische Vielseitigkeit. Im Auftaktspiel gegen Ungarn und im besagten Achtelfinale gegen Italien überzeugte die Schweiz durch einen proaktiven Spielansatz und eine enorme Ballsicherheit. Gegen Gastgeber Deutschland präsentierte sich die Yakin-Elf dagegen defensiv kompakt, schreckte aber auch vor einem situativ sehr hohen Pressing keineswegs zurück. Mit Breel Embolo oder Dan Ndoye verfügt die Nati in dieser Hinsicht über hervorragendes Spielermaterial, das den so schleppenden und teilweise fahrigen englischen Spielaufbau massiv unter Druck setzen kann.
(Photo by Lars Baron/Getty Images)
Auch wenn die Mannschaft von Gareth Southgate erst zwei Gegentreffer hinnehmen musste, so präsentiert sich die englische Defensive bisher alles andere als sattelfest. Auffallend sind vor allem die immens großen Abstände zwischen den Ketten, welche die Slowakei durch einen einfachen langen Ball samt anschließender Kopfballverlängerung mit der 1:0-Führung bestrafte. Kyle Walker und Marc Guehi legten in dieser Szene ein desolates Verteidigungsverhalten an den Tag, insbesondere Guehi war nach einem eigentlich vielversprechenden Turnierauftakt zuletzt von der Rolle. Der 23-jährige Youngster von Crystal Palace könnte gegen die Schweiz von Reds-Star Joe Gomez ersetzt werden.
Vor der Abwehrkette dürfte Southgate erneut auf eine Doppelsechs bestehend aus Declan Rice und Kobbie Mainoo bauen. Gegen die Slowakei war der Rohdiamant von Manchester United eine der wenigen positiven Erscheinungen im englischen Spiel. Der Teenager brachte 96 Prozent seiner Pässe an den Mitspieler und lieferte darüber hinaus immerhin sieben Zuspiele in das Angriffsdrittel. Die zuvor gestarteten Experimente mit Trent Alexander-Arnold oder Connor Gallagher als Rice-Partner erklärte Southgate bereits für gescheitert.
Eben jener Gareth Southgate wird gegen die Schweiz erneut unter einem großen Druck stehen. Trotz der – zumindest auf dem Papier – gelieferten Ergebnisse sinkt dessen Ansehen in der Heimat derzeit mit jedem weiteren Spiel. Ein Viertelfinal-Aus würde den 53-Jährigen ausgerechnet in seinem 100. Länderspiel mit großer Sicherheit den Job kosten, vermutlich wird er sich nur durch einen Titelgewinn im Amt halten können. Ikonen des englischen Fußballs wie Rio Ferdinand, Alan Shearer oder Gary Lineker bombadieren Southgate seit Tagen mit “Ratschlägen”, Jürgen Klinsmann plädierte in seiner Sun-Kolumne für die Widerbelebung des 4-4-2-Systems.
Während der frühere Nationalspieler in großen Teilen von Öffentlichkeit und Presselandschaft also jeglichen Kredit verspielt hat, genießt er innerhalb seiner Mannschaft noch immer ein hohes Ansehen. “Jeder, der Zeit mit ihm verbracht hat und ihn als Person kennt, weiß, wie hart er und sein Team arbeiten. Er weiß, was wir als Nation erreichen können. Seine großartigen Eigenschaften und Qualitäten als Manager sind, dass er den Spielern gegenüber unkompliziert und klar auftritt”, stellte Abwehrchef John Stones klar.
Und wer weiß: Vielleicht hat der dramatische Last-Minute-Ausgleich gegen die Slowakei und der anschließende Sieg nach Verlängerung etwas in der eigentlich so hochtalentierten Mannschaft freigesetzt. Doch bis uns die Engländer diese Annahme nicht in Form von gezeigten Leistungen auf dem Rasen bestätigt haben, wäre es angesichts der starken Darbietungen der Schweiz vermessen, den Three Lions die Favoritenrolle zuzusprechen. Die Eidgenossen waren in den vergangenen drei Wochen schlicht und ergreifend die deutlich bessere Fußballmannschaft. Und sie haben ein klares Ziel: den ersten Halbfinaleinzug ihrer Landesgeschichte.
(Photo by Richard Pelham/Getty Images)