90PLUS
·29. April 2025
Offener denn je? Enge Duelle im Halbfinale – 3 Thesen zur Champions League

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·29. April 2025
Selten waren die Halbfinalbegegnungen offener als in dieser Champions-League-Saison. Eine entscheidende Rolle dürften dabei Standardsituationen spielen. Außerdem könnte mal wieder ein Brasilianer bester Torjäger werden. Jakob Haffke formuliert drei Thesen zu den Halbfinal-Hinspielen der Champions League.
Die üblichen Verdächtigen mussten in dieser Saison alle bereits die Segel streichen. Mit Real Madrid, Manchester City, Liverpool, Bayern München und Chelsea sind die fünf verschiedenen Titelträger der letzten zehn Jahre alle bereits ausgeschieden. Von den vier verbliebenen Teams gewann Barcelona als letzte Mannschaft in der Saison 2014/15 den Henkelpott. Inter Mailand triumphierte letztmals 2009/10, während Paris Saint-Germain und Arsenal noch auf den Gewinn des größten europäischen Vereinswettbewerbs warten.
Doch dieses Favoritensterben ist nicht der einzige Grund, warum der Ausgang der Champions League offener denn je scheint. Keiner der vier verbliebenen Halbfinalteilnehmer konnte in den jüngeren Vergangenheit auf der großen Bühne Königklasse so richtig überzeugen. PSG scheiterte immer wieder spektakulär, Arsenal steht erstmals seit 2008/09 überhaupt wieder unter den letzten Vier, Inter Mailand gilt seit Jahren stets eher als Außenseiter und Barcelona kämpfte in den letzten Jahren mehr mit sich selbst, als um die europäische Krone.
Auch der Blick auf die aktuelle Leistungsfähigkeit wirft bei jedem Team zumindest kleinere Fragezeichen auf. Paris verlor zuletzt in der Liga erstmals mit 1:3 gegen Nizza und tat sich gegen Aston Villa im Viertelfinal-Rückspiel enorm schwer. In der Defensive zeigte sich PSG nicht nur gegen Villa anfällig und vorne bereitet die Chancenverwertung zumindest phasenweise Sorgen. Arsenal überzeugte gegen Real Madrid auf ganzer Linie, allerdings fehlt mit Gabriel weiterhin einer der wichtigsten Abwehrspieler. Hält die starke Defensive Arsenals auch gegen die Pariser Offensivpower stand?
Barcelona spielt den wohl spektakulärsten Offensivfußball in dieser Saison, allerdings ist Hansi Flicks Spielweise auch sehr riskant. Die hohe Abwehrlinie ist prädestiniert für vereinzelte Fehler und die Verletzung von Robert Lewandowski tut in der Offensive weh. Inter Mailand setzte sich im Viertelfinale knapp gegen ein ersatzgeschwächtes Bayern München durch. Taktisch ist Simone Inzaghis Team zwar sehr flexibel, allerdings hat Inter nominell den wohl schwächsten Kader und konnte keines der letzten vier Pflichtspiele gewinnen. So hat jedes dieser vier Teams selbstverständlich viel zu bieten, komplett unschlagbar wirkt aber keiner der Halbfinalisten.
Meine These daher: Selten waren die Halbfinalpartien so ausgeglichen und eine Prognose über den späteren Sieger so schwer, wie in dieser Saison.
In engen Spielen können Standardsituationen oft das berühmte Zünglein an der Waage sein. Wie im ersten Absatz beschrieben, kann durchaus davon ausgegangen werden, dass auch die Spiele zwischen Arsenal und Paris Saint-Germain, sowie Barcelona gegen Inter sehr eng werden könnten. Doch nicht nur aufgrund der vermeintlichen Ausgeglichenheit der Halbfinalpartien könnten Standards eine große Rolle in den kommenden Champions-League-Partien spielen.
Grund dafür sind vor allem die offensiven Stärken von Arsenal und Inter. Arsenal gilt seit Jahren als bestes Standardteam der Welt. Standard-Coach Nicolas Jover ist einer der besten, vor allem aber der berühmteste Vertreter seines Fachs. Zwar fehlt Arsenal mit Innenverteidiger Gabriel einer der kopfballstärksten Spieler Europas verletzungsbedingt. Allerdings sind auch William Saliba, Mikel Merino und nicht zuletzt Gabriel-Ersatz Jakub Kiwior, der gegen Crystal Palace per Kopf traf, enorm stark in der Luft. Ganz zu schweigen von Declan Rice und Bukayo Saka, die zwei der besten Standardschützen der Welt sind. Beide sind in der Lage Ecken und Freistoßflanken mit höchster Präzision zu ihren Mitspielern zu bringen. Rice traf zudem gegen Real Madrid mit zwei wunderschönen direkten Freistößen.
Declan Rice zählt zu den besten Standardschützen der Welt. Hier erzielt er das 1:0 im Viertelfinal-Hinspiel gegen Real Madrid per direktem Freistoß. (Photo by Justin Setterfield/Getty Images)
Weniger besungen, aber trotzdem enorm stark bei Offensiv-Standards ist Inter Mailand. Dies bekam zuletzt Bayern München schmerzhaft zu spüren. Beide Treffer Inters beim 2:2 im Viertelfinal-Rückspiel resultierten aus Ecken. In Italien zählt Inzaghis Team seit Jahren zu den besten Teams nach Standards. Ähnlich wie Arsenal stimmt die Mischung aus guten Schützen und kopfballstarken Abnehmern. Mit Federico Dimarco und Hakan Calhanoglu hat Inter zwei Spieler, die von beiden Seiten präzise Standards schlagen können. Benjamin Pavard, Marcus Thuram oder Alessandro Bastoni sind sehr starke Abnehmer in der Luft.
Zu den Stärken Arsenals und Inters kommen außerdem defensive Schwächen auf Seiten der jeweiligen Halbfinalgegner. Sowohl PSG, als auch Barcelona sind körperlich nicht die größten Teams. Dazu kommt mit Gianluigi Donnarumma ein Keeper, der bei Flanken trotz seiner imposanten Größe immer wieder wackelt und sich desöfteren beim Herauslaufen verschätzt. Sollte Wojciech Szczesny seinen Platz zwischen den Barca-Pfosten behalten, stünde auch bei den Katalanen ein Torwart im Kasten, der seine Stärken nicht unbedingt in der Strafraumbeherrschung hat.
Meine These daher: Starke offensive Standards auf der einen Seite, defensive Fragezeichen bei deren Verteidigung auf der anderen: Standards werden im Champions-League-Halbfinale eine große Rolle spielen.
Drei Spieler teilten sich in der Champions-League-Saison 1999/00 den Titel als bester Torjäger. Neben Real Madrids Raul erzielten auch Barcelonas Rivaldo und Portos Mario Jardel zehn Treffer in der Königsklasse. Zwei der drei besten Schützen waren also Brasilianer. In den folgenden 24 Ausgaben der Champions League folgten allerdings nur noch zwei Spieler aus dem Land des fünfmaligen Weltmeisters, die sich diesen Titel sichern konnten. Im Jahr 2006/07 traf Kaka zehnmal und 2014/15 war Neymar mit ebenfalls zehn Treffern am erfolgreichsten.
Die Marke von zehn Toren hat Raphinha in dieser Saison bereits geknackt. In zwölf Partien traf Barcelonas Offensivspieler zwölfmal. Nur 84 Minuten benötigt der ehemalige Leeds-Spieler pro Treffer. Damit liegt Raphinha in der Rangliste zwar noch einen Treffer hinter Dortmunds Serhou Guirassy, der diese Bilanz allerdings nicht mehr ausbauen kann. Mindestens zwei Spiele bleiben dem Anführer von Hansi Flicks Team, der Barca in Abwesenheit von Marc-André ter Stegen oft als Kapitän aufs Feld führt, also noch, um Guirassy zu überbieten.
Auch im Viertelfinal-Hinspiel gegen Borussia Dortmund traf Raphinha. (Photo by Pedro Salado/Getty Images)
Besonders beeindruckend ist dabei, dass Raphinha keinen seiner zwölf Treffer vom Elfmeterpunkt erzielt hat. Strafstöße sind in Barcelona eine Sache für Robert Lewandowski, der mit elf Toren nur einen Platz hinter seinem brasilianischen Teamkollegen lauert. Der ehemalige Bayern-Angreifer ist allerdings verletzungsbedingt fraglich. In seiner Abwesenheit dürfte Raphinha auch bei Elfmetern die Möglichkeit bekommen seine Bilanz auszubauen. Weitere Kandidaten, die mit ihren Teams noch im Wettbewerb sind, wie Inters Lautaro Martinez oder PSGs Ousmane Dembélé haben mit acht, bzw. sieben Treffern wohl schon zuviel Rückstand. Die Chancen stehen also gut, dass der Top-Torjäger der Champions League am Saisonende erstmals seit zehn Jahren wieder aus Brasilien kommen wird.
Meine These daher: Raphinha erzielt in den verbleibenden Spielen noch mindestens zwei Tore und wird sich verdientermaßen als erster Brasilianer seit Neymar die Torjäger-Krone der Champions League holen.
Jakob Haffke
(Photo by Marco Luzzani/Getty Images)