Cavanis Friseur
·21. September 2022
Cavanis Friseur
·21. September 2022
Die Serie A hält bislang, was sie verspricht und schon einige Überraschungen bereit. Am vergangenen Wochenende gewannen sechs Teams aus der unteren Tabellenhälfte ihre Partien. Das wohl spektakulärste Ergebnis: Aufsteiger Monza bezwang Rekordmeister Juventus, holte den ersten erstklassigen Sieg in der Vereinsgeschichte und verschärfte damit die Krise in Turin. Bevor wir uns in der kommenden Woche den Problemen der Bianconeri widmen, soll es heute um zwei Teams gehen, die aktuell besser dastehen als erwartet: Udinese und Atalanta.
Ein Text von Sebastian Kahl
Zwar sind erst sieben von 38 Spieltagen absolviert, die Tabelle eine Momentaufnahme. Aber die Länderspielpause ist die erste Zäsur in dieser Saison. Und sie ist uns eine willkommene Gelegenheit, die Frühform der Friulani aus Udine und Orobici aus Bergamo zu durchleuchten.
Sie beendeten die vorangegangene Saison auf Rang acht respektive zwölf, liegen aktuell aber auf Rang drei respektive zwei. Im Italienischen gelten solche Mannschaften als squadre rivelazione, als Offenbarung. Was ist bei den beiden Vereinen passiert? Wie nachhaltig ist der derzeitige Erfolg? Wir arbeiten uns von unten nach oben und beginnen im nordöstlichen Winkel Italiens.
Udinese Calcio gehört zum Inventar der Serie A. Zwar liegen die Friulani nicht im oberen Regal sondern eher in den Mittelgängen, aber tüchtige Filialleiter behalten die Vorräte ständig im Auge. Denn seit 1995 ist Udinese ununterbrochen in der Serie A vertreten. Es ist die längste andauernde Serie außerhalb Mailands und Roms. In dieser Zeit haben sie wiederholt gute Mannschaften aufgebaut, deren Bestandteile andernorts Begehrlichkeiten weckten.
Insofern produziert ihre eigene gute Arbeit immer wieder Verkaufsschlager wie Rodrigo de Paul, Alex Meret, Alexis Sánchez oder Juan Cuadrado. Die jüngste internationale Beteiligung von Udinese datiert aus dem August 2013: Damals unterlagen sie Slovan Liberec in den Play-offs zur Europa League. Die Saison beendeten sie auf Rang 13 und auch seither keine mehr in der oberen Tabellenhälfte.
Auch die vergangene Saison war keine ruhige in Udine. Im Dezember 2021 wurde Trainer Luca Gotti von Interimstrainer Gabriele Cioffi abgelöst. Dessen Vertrag wurde jedoch nicht verlängert, stattdessen der bis dahin in der Serie A unerfahrene Andrea Sottil verpflichtet. Von 1999 bis 2003 war der hart gesottene Verteidiger selbst für Udinese aktiv, bestritt 87 Ligaspiele für die Zebrette, die kleinen Zebras.
Bei diversen unterklassigen Vereinen hatte sich Sottil als Trainer angedient, zuletzt mit Ascoli die Play-offs der Serie B erreicht. Seiner Mannschaft gelang der Aufstieg nicht, ihm schon. In Udine lediglich mit einem Einjahresvertrag ausgestattet, verlor Sottil keine Zeit.
Dabei konnte Sottil seine Mannschaft auf einem soliden Fundament aufbauen. Der befürchtete große Umbruch blieb nämlich aus. Mit Nahuel Molina verließ lediglich ein Spieler den Verein, der in der vergangenen Saison mehr als 2.000 Ligaminuten für Udinese gesammelt hatte. Flügelverteidiger Destiny Udogie unterschrieb bei Tottenham, verbleibt aber diese Saison noch per Leihe in Udine.
Der Kader sei gut bestückt, gab Sottil zu Protokoll, jede Position doppelt besetzt. Seine Aufgabe sei es, alle Spieler zu involvieren und eine gemeinsame Identität zu entwickeln. Schnelle Konter seien Bestandteil der DNA der Mannschaft.
Schon lange für ihre defensive Stabilität gerühmt, punktet Udinese heuer außerdem durch eine furiose Offensive. Zwar wurde ein mutiger Auftritt bei Meister Milan zum Auftakt – trotz zwischenzeitlicher Führung – nicht mit Punkten belohnt. Aber das 2:4 war ein erstes Achtungszeichen. Denn nach einer Nullnummer gegen Salernitana kam die schwarz-weiße Maschine in Fahrt und gewann fünf Mal in Folge.
Mit 16 Punkten aus sieben Spielen haben sie den Vereinsrekord für den besten Saisonstart in der Serie A eingestellt. Zuletzt gelang ihnen diese Ausbeute in der Saison 2000/01.
Mit 15 Treffern stellen sie gemeinsam mit Napoli die torgefährlichste Offensive. Ihr Schnitt von 2,14 Toren pro Spiel liegt weit über dem der Vorsaison (1,61). Nur Lazio (15,58 %) verwandelte mehr Schüsse als Udinese (14,74 %). Der portugiesische Stürmer Beto erzielte in der vergangenen Saison, seiner ersten für Udinese, elf Tore, steht nun bereits bei vier Treffern.
Udinese agiert aus einem 3-5-2. Prägnant ist die sehr offensive Ausrichtung der Flügelverteidiger. Das Umschaltspiel aus der Zentrale verlagert sich schnell auf die Außenbahnen. Links treibt der italienische Teenager Udogie das Spiel mit seiner Schnelligkeit voran, rechts der 31-jährige Argentinier Roberto Pereyra mit seiner Raffinesse.
Den Freigeist in der Offensive gibt der 28-jährige Gerard Deulofeu. Der Spanier ist einer von mehreren Friuli, der in dieser Saison ein neues Level zu erreichen scheint. Nach den absolvierten sieben Spieltagen führt er die Serie A in einigen Statistiken an: Seinen 2,6 expected Assists (xA) stehen fünf tatsächliche Vorlagen gegenüber (beides ligaweit Rang eins).
Der Wert expected Threat (xT) misst die erwartete Torgefahr, die von Pässen und Dribblings eines Spielers ausgehen. Bewertet werden Anfangs- und Endpunkt der Aktionen. Kein Spieler der Liga reicht hier an Deulofeus Wert (1,78 xT) heran, bei den Pässen belegt er Rang eins, bei Dribblings Rang drei – dort liegt Udogie übrigens auf Rang vier. Kein Spieler der Liga legte seinen Teamkollegen mehr Schüsse auf als Deulofeu (23).
Bei allem Sturm und Drang: Udinese baut auf die Defensive. Stabilität verleiht der Mannschaft eine erprobte Achse: Torwart Marco Silvestri, Innenverteidiger Rodrigo Becáo sowie der defensive Mittelfeldspieler Walace. Das ist eher selten die feine Klinge, aber meistens erfolgreich. Udinese gewann bislang die meisten Tackles (83).
Nur Milan konnte wirklich dagegenhalten. Vier ihrer sieben Gegentore kassierte Udinese ja zum Auftakt im San Siro, danach eben nur noch drei in sechs Spielen.
Die Mannschaft wächst an ihren Aufgaben. Zwei Auftritte gegen größere Vereine stechen heraus, zunächst das 4:0 gegen die Roma am fünften Spieltag. Kam der erste Test bei Milan wohl noch zu früh, war Udinese nun besser vorbereitet.
Die Giallorossi von José Mourinho spielen sich in dieser Saison viele Chancen heraus, hadern aber mit der Verwertung. Das wusste Udinese gut zu unterbinden, presste beständig und störte die Gäste bereits im Spielaufbau. So limitierten sie die Roma zu zwei Schüssen aufs Tor. Sie zwangen die Hauptstädter zu vielen Fehlern, schlugen daraus früh und wiederholt Kapital.
Wie weit die Spielanlage der Friulani bereits gereift ist bzw. wie ernst sie als Favoritenschreck genommen werden, zeigte sich im Vorfeld ihrer Begegnung mit Inter. Deren Trainer Simone Inzaghi mahnte die Seinen, nur mit Einsatzwille, Entschlossenheit und Laufbereitschaft würden sie in der Dacia Arena bestehen können. Dort war Udinese zuvor dreimal ohne Gegentreffer geblieben. Tatsächlich gingen die Interisti durch einen Freistoß von Nicolò Barella früh in Führung.
Doch bereits bei Sassuolo hatte Udinese Nehmerqualitäten bewiesen, waren in Rückstand geraten und drehten die Partie noch in einen 3:1-Auswärtserfolg. Entscheidend dabei: Beto, der als Joker zwei Tore beisteuerte und gegen Inter von Beginn an ran durfte. Diese Randnotiz beweist die zu Saisonbeginn von Sottil propagierte Marschrichtung, auf alle Spieler setzen zu wollen. Das Leistungsprinzip greift.
Gegen Inter steckte Udinese den Gegentreffer rasch weg. Eine Viertelstunde später bugsierte Mailands Škriniar einen Freistoß von Udinese ins eigene Tor, der sinnbildliche Ausdruck von Inters Überforderung.
Überfordert waren auch die Mailänder Alessandro Bastoni und Henrikh Mkhitaryan, die (beide verwarnt) bereits in der ersten Halbzeit ausgewechselt wurden. Bastoni hielt dem unablässigen Pressing von Udinese, Mkhitaryan dem physischen Druck im Mittelfeld nicht stand. Dass Udinese letztlich mit 3:1 siegte, überrascht auf dem Papier, nicht aber vom Spielverlauf her. Die beiden Tore der Gastgeber in der Schlussphase legte dann auch Deulofeu auf. Udinese geht daher auf Rang drei in die Länderspielpause.
Frei nach Marc Twain war die Nachricht vom Tod Gian Piero Gasperinis stark übertrieben. Seit Juni 2016 bei Atalanta ist Gasperini der mit Abstand dienstälteste Trainer der Serie A. Ohne seine gesamte Amtszeit nachzuzeichnen, begeisterten seine Mannschaften über Jahre hinweg durch spektakulären Angriffsfußball.
Gasperini präferiert ein 3-4-1-2 mit konstanten Rochaden in Mittelfeld und Angriff. Das Set-up ist auf Breite ausgelegt, was mit entsprechenden Bewegungen der zentralen Spieler für Überlagerungen auf einer Spielfeldseite sorgt, flüssiges Kombinationsspiel begünstigt und schnelle Seitenverlagerungen vorbereitet.
Ihr Spiel ist für Gegner schwer ausrechenbar. Hinzu kommt die Kreativität einzelner offensiver Akteure, denen im Konstrukt Raum zur Entfaltung gelassen wird. Atalanta kommt so zu mehr Abschlüssen als andere Teams. Im Spiel gegen den Ball locken sie den Gegner auf die Flügel, erobern Bälle früh mit mannorientiertem Pressing.
Das war zumindest lange das Idealbild des Fußballs in Bergamo. Ein häufiger Vorwurf: Atalanta müsse immer drei oder vier Tore schießen, weil sie selbst oft zwei oder drei kassierten. Lange beschrien, trat genau das in der vergangenen Saison ein. Es war die schlechteste unter Gasperini. Atalanta verpasste die europäischen Plätze, landete auf Rang acht.
Erstmals schien der Status des 64-Jährigen angekratzt. Stimmen wurden laut, dass ein Trainerwechsel frischen Wind in den Verein bringen müsse. Stattdessen deutet der Saisonstart an, dass der alte Trainerfuchs noch den ein oder anderen Trick mehr kennt als die junge Konkurrenz.
Denn das Spiel von Atalanta hat sich radikal verändert. Allein die Grundausrichtung scheint eine andere zu sein, nun wesentlich defensiver geprägt. Atalanta überlässt dem Gegner nun mehr Feldanteile, sitzt deutlich tiefer.
Mit erst drei Gegentoren stellen sie plötzlich die beste Defensive der Liga. Zwar sind die expected Goals Against (6,3) deutlich höher, aber stellen immer noch der drittbeste Wert der Liga. Ein Faktor: die durchschnittliche Distanz, aus der die Gegner zum Abschluss kommen – aus 19,2 Metern. Auch das ist der drittbeste Wert der Liga.
Zum Vergleich: Monza lässt Gegner aus der durchschnittlich kürzesten Distanz abschließen – aus 13,6 Metern. Das wirkt sich auf die non-penalty expected Goals per Shot aus, die ist bei Monza doppelt so hoch (0,14) wie bei Atalanta (0,07). Noch eine Randnotiz: Atalanta fing ligaweit die zweitmeisten Bälle ab (83).
Der größte stilistische Unterschied zeigt sich aber im Ballbesitz, der liegt bei anteilig 45,7 % – das sind ca. zehn Prozent weniger als in den vergangenen Jahren. Zudem ist Atalanta das flüssige Kombinationsspiel abhanden gegangen, die durchschnittliche Passgenauigkeit von 75,4 % ist ligaweit der zweitschlechteste Wert.
Nur zwei Teams halten den Ball kürzer in den eigenen Reihen als Atalanta. Deren durchschnittliche Sequenz dauert nur 7,27 Sekunden; in der vergangenen Saison waren es noch 9,29 Sekunden. Nur 27 Sequenzen liefen über zehn oder mehr Stationen; ligaweit die drittwenigsten.
Mit diesen Werten rangieren sie gleichauf mit den Aufsteigern aus Cremona und Lecce sowie den völlig ideenlosen Teams aus Empoli und Verona. Und das wirft die Frage auf, wie nachhaltig der derzeitige Erfolg von Atalanta ist. Hier mag ein Blick auf die Zahlen im Jahresverlauf helfen:
Atalantas Offensivzahlen der letzten Jahre
Bereits von 2019/20 auf 2020/21 war ein Negativtrend insbesondere bei den expected Goals pro 90 Minuten zu erkennen. Von 2020/21 kam ein Rückschritt in den goal creating actions (GCA) pro 90 Minuten hinzu; ein Wert der offensiven Output misst. Hier liegt heuer z. B. Napoli auf Rang eins mit 4.00 GCA / 90. Die letzte Spalte zeigt die Anzahl der Ballkontakte im vordersten Drittel an und zeigt (zusammen mit dem Ballbesitz) eindrücklich die stilistische Änderung im Spiel der Orobici.
Die Wege zum Tor werden weiter, die Aktionen seltener. Dementsprechend zäh waren die meisten Partien von Atalanta bisher. Die Spielweise eignet sich eher für Underdogs, die auswärts antreten – und genau dort blieb Atalanta bislang verlustpunktfrei, gewann bei Sampdoria, Hellas, Monza und der Roma jeweils zu null. Gegen Cremonese mussten sie am sechsten Spieltag daheim das Spiel selber machen, hatten plötzlich 58 Prozent Ballbesitz und keine Ideen, was damit anzufangen.
Gasperini sucht noch nach seiner besten Aufstellung. Einige Neuzugänge konnten bereits Eindruck hinterlassen: Die Verteidiger Merih Demiral und Caleb Okoli sind Verstärkungen, formen gemeinsam mit Rafael Tolói die neue Dreierkette.
Die Angreifer Rasmus Højlund und Ademola Lookman konnten sich bereits in die Torschützenliste eintragen und sind ernsthafte Alternativen. Und es wäre sträflich, hier nicht Teun Koopmeiners zu erwähnen, der in seine zweite Saison bei Bergamo startet und zum unumstrittenen Spielmacher in der Zentrale avanciert ist. Von dort beweist er seine gute Übersicht und exzellente Bandbreite im Passspiel. Seine Marke von vier Vorlagen aus der Vorsaison hat er bereits egalisiert.
Atalanta ist heuer eklig zu bespielen. Noch einmal soll uns eine Begegnung mit der Roma als Gradmesser gereichen. Am vergangenen Sonntag trat Atalanta im Stadio Olimpico an, verlegte sich auf den Clinch mit den Gastgebern und sammelte mehr Gelbe Karten (7) als eigene Torschüsse (4).
Roma scheiterte einmal mehr an ihrer eigenen Chancenverwertung. Die fiese Spielweise von Atalanta trieb sogar José Mourinho, den Meister der dunklen Künste, zur Weißglut und in einen Platzverweis. Das Siegtor schoss mit Giorgio Scalvini ein 18-jähriger Newcomer aus der eigenen Jugend.
Wie weit kann es also gehen für Udinese und Atalanta? Bis nach Europa? Echte Anwärter auf den Scudetto sind sie wohl beide nicht. Zur Einordnung des aktuellen Tabellenstands sei eine letzte Statistik eingebracht: und zwar die Schwierigkeit des Spielplans, quasi die Formtabelle der bisherigen Gegner.
Die zeichnet ein eindeutiges Bild: Demnach hatte Udinese bisher mit dem viert-schwierigsten Spielplan zu kämpfen, Atalanta profitierte vom dritt-leichtesten. Ein Wermutstropfen ist ihre derzeitige Überperformance im Angriff, dort stehen 9,4 xG stattlichen 15 tatsächlich erzielten Toren gegenüber.
Aber auch vom Augentest scheint die Spielanlage von Udinese nachhaltiger. Vermeintlich stärkeren Gegnern, die unter der Woche noch in Europa ran müssen, wird bei der engen Taktung der Spiele die Kraft fehlen, das Tempo von Udinese mitzugehen. Natürlich unterbricht die Länderspielpause nun ihren Rhythmus, könnte allerdings auch eine willkommene Pause darstellen.
Sottil wird sie dann schon wieder rechtzeitig anspitzen. Atalanta hingegen wird vor der Aufgabe stehen, die neue pragmatische defensive Spielweise um eine kreative offensive Komponente zu erweitern. Dafür sollte Gasperini ja eigentlich einen Plan haben.
Für Udinese geht es Anfang Oktober bei Hellas Verona weiter, für Atalanta daheim gegen Fiorentina und an dieser Stelle bereits in der kommenden Woche mit dem Fehlstart von Juventus.
Ein Text von Sebastian Kahl
(Titelbild: ©Getty Images/Amadeus Marzai)
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