90PLUS
·19. April 2020
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·19. April 2020
Im Sommer 2003 wechselte der argentinische Offensivspieler Andres D’Alessandro von River Plate zum VfL Wolfsburg. In der Bundesliga absolvierte der Linksfuß 61 Spiele. 61 Spiele, in denen er einen bleibenden Eindruck hinterließ und sein Talent zigfach nicht nur andeutete.
Talent alleine ist nicht alles im Fußball. Es verhilft Spielern dazu, Chancen zu erhalten. Chancen, die genutzt werden müssen. Es sind viele Parameter notwendig, damit aus einem vielversprechenden Talent ein Weltklassespieler wird. Man muss zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, die Symbiose zwischen eigenen Fähigkeiten, einem guten Trainer, harter Arbeit und einer guten Mannschaft muss vorhanden sein. Oft fehlt es an Kleinigkeiten, die ausschlaggebend sein können.
Sommertransferphase 2003: Der VfL Wolfsburg verpflichtet Andres D’Alessandro und überweist rund neun Millionen Euro an River Plate. Mit dem jungen Argentinier verpflichteten die Wölfe einen sehr guten Techniker, der dem VfL, aber auch der Bundesliga neues Leben einhauchen soll. Die einst ruppige, von Intensität und Zweikämpfen geprägte Liga ist mittlerweile bereit, mehr Edeltechniker auf dem Rasen zu dulden, ihnen den nötigen Raum für kreative Elemente einzuräumen.
In Wolfsburg soll D’Alessandro die vielversprechende Offensive um den Bulgaren Martin Petrov sowie Stürmer und Landsman Diego Klimowicz verstärken. Er soll das Bindeglied zwischen hart arbeitender Defensive um Miroslav Karhan, Pablo Thiam, Stefan Schnoor, Thomas Rytter und eben der Offensive herstellen. Trainer Jürgen Röber vertraut von Beginn an auf D’Alessandro. Und der Argentinier zeigte bereits in seinem dritten Spiel in der neuen Liga, warum die bezahlte Summe gerechtfertigt ist.
Es was der 17. August 2003, als der VfL Wolfsburg auf den Hamburger SV traf. D’Alessandro stand im sehr offensiv ausgerichteten Mittelfeld an der Seite von Defensivabsicherung Thiam und Freigeist Albert Streit von Beginn an auf dem Feld. Er zog die Fäden, initiierte einige Angriffe, während der ersten 45 Minuten kam aber nichts Zählbares dabei herum.
Das sollte sich ändern. Erst ging der HSV durch Sergej Barbarez in Führung, anschließend übernahm D’Alessandro das Zepter und trieb die Mannschaft an. Wolfsburg drehte das Spiel, der neue Spielmacher brillierte. Das wichtige 3:1 von Sven Müller legte er vor, das 4:1 erzielte er selbst, bevor er gut zehn Minuten vor dem Ende des Spiels unter Applaus das Feld verließ, für seinen absoluten Gegenentwurf, den rauen Karhan.
Der VfL Wolfsburg, eine in vielen Bereichen recht durchschnittliche Mannschaft, spielte eine solide Saison 2003/04 – mit Höhen und Tiefen. Die Wölfe erzielten zahlreiche Tore, kassierten aber auch viel zu viel. Ergebnisse wie ein 3:5 in Bremen, ein 2:4 in Dortmund und Leverkusen waren keine Seltenheit. D’Alessandro, der sich gleichermaßen durch seine Eleganz und Zielstrebigkeit auszeichnete, war häufig der Fixpunkt, der Spieler, den man suchte, um offensiv in Erscheinung zu treten.
D’Alessandro besaß den Blick für den Mitspieler, wusste instinktiv, welchen Pass er spielen muss, um ihn in Szene zu setzen. Sein linker Fuß konnte den Ball punktgenau über große Distanzen an den Mann bringen, gleichermaßen war der Argentinier in der Lage, hervorragende Standards zu treten. Die Technik war formidabel, zeitweise hatte er brillante Ideen, die aber in der Wolfsburger Offensive niemand nachvollziehen konnte.
Insgesamt verlief seine erste Saison in der Bundesliga sehr gut. Vier Tore und elf Vorlagen waren eine Bilanz, auf der man aufbauen kann. Die Konstanz fehlte D’Alessandro zwar, aber in Spielen wie gegen Hertha BSC, als er mit einem Tor und zwei Vorlagen beim 3:0 zum Matchwinner avancierte, ließen die Herzen der Fans höher schlagen. Entsprechend hoch waren auch die Erwartungen vor der Saison 2004/05, der nächste Schritt sollte folgen.
Doch in der Saison 2004/05 folgten erstmals Probleme. D’Alessandro verpasste die ersten drei Spiele, meldete sich dann aber mit einem Assist beim Spiel gegen Schalke 04 zurück. Doch der Dauerbrenner der Vorsaison, als er in fast jedem Pflichtspiel auf dem Platz stehen konnte, war der Argentinier nicht mehr. Blessuren sorgten dafür, dass er einige Spiele verpasste, zudem wurde der Edeltechniker mehrfach ein- oder ausgewechselt.
Seine Klasse andeuten konnte D’Alessandro, der in seiner Laufbahn 28 Spiele für die argentinische A-Nationalmannschaft absolvierte, aber dennoch mehrfach. Seine schnellen Haken, seine Richtungswechsel, seine Streicheleinheiten für den Ball sorgten weiterhin für Begeisterung – nur fehlte eben der letzte Schritt. Etwas mehr Konstanz, bessere Mitspieler und auch das nötige Quäntchen Glück verhinderten den ganz großen Durchbruch. Der VfL Wolfsburg führte in der ersten Saisonhälfte teilweise sogar die Tabelle an, aber im Endeffekt musste man sich wieder mit einem Platz im Mittelfeld begnügen.
Nach der ersten Hälfte der Saison 2005/06, in der D’Alessandro in 13 Ligaspielen immerhin fünf Torbeteiligungen gelangen, wechselte der Argentinier für die Rückrunde auf Leihbasis zum abstiegsbedrohten FC Portsmouth in die englische Premier League. Der Schritt in die körperbetonte, noch schnellere Liga erwies sich überraschenderweise als nicht so falsch. Zwar konnte D’Alessandro nicht wöchentlich Spiele entscheiden, er stand aber in den letzten zehn Saisonspielen in der Startelf, trug dazu bei, dass der FC Portsmouth die Klasse hielt.
Die Hoffnung beim VfL Wolfsburg war groß. D’Alessandro kam mit einem positiven Gefühl im Gepäck zurück zu den Niedersachsen. Doch diese Hoffnung hielt nicht lange an, schnell kristallisierte sich heraus, dass es für den Argentinier in Wolfsburg nicht weitergehen würde. Ein Wechsel – erneut auf Leihbasis – zu Real Saragossa nach Spanien war die Folge. Eine technisch starke Liga, die offensiv ausgerichtet ist? Das klang nach einer sehr guten Lösung.
Nach der Leihe verpflichtete Real Saragossa D’Alessandro fest, doch nur ein halbes Jahr später folgte der Wechsel nach Argentinien. Der weitere Karriereverlauf ist schnell zusammengefasst: Nach einem halben Jahr bei San Lorenzo zog es D’Alessandro nach Brasilien, zu Internacional Porto Alegre. Seit 2008 spielt er nun – nur unterbrochen von einer Leihe zu River Plate – für den brasilianischen Klub. Bis zum Ende dieses Jahres läuft sein Vertrag noch, ob dieser verlängert wird, ist nicht klar.
Klar ist jedoch, dass der Schritt aus Europa zurück nach Südamerika für D’Alessandro der genau richtige war. Hier konnte er abseits des großen, medialen Hypes, der in Europa insbesondere bei technisch versierten Spielmachern aus Südamerika schnell ungeahnte Ausmaße einnimmt, einfach nur das machen, was er immer wollte: Fußball spielen.
Hier zieht er seit Jahren die Fäden, lässt die Gegenspieler stehen, trottet zeitweise auch etwas lustlos über den Platz. Doch das wird ihm verziehen, schließlich entscheidet er auch mit mittlerweile 39 Jahren noch immer Spiele. Und sei es durch einen gestreichelten Pass über 30 Meter oder eine millimetergenaue Freistoßflanke in den Strafraum. Diese Fähigkeiten verliert ein Fußballer nicht.
Hätte die Karriere des Andres D’Alessandro mit besseren Entscheidungen und etwas mehr Glück einen anderen Verlauf nehmen können? Hätte der Argentinier bei einem Topklub eine prägende Figur werden können und auch in der Albiceleste langfristig für Furore sorgen können? Vermutlich ja. Die Fähigkeiten, das Talent – all das brachte der Offensivspieler mit. Doch wie wir bereits gelernt haben: Talent reicht nicht immer.
(Photo by Nadine Rupp/Bongarts/Getty Images)
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