MillernTon
·18 Maret 2025
„Ein gefühltes Dahinsiechen“

MillernTon
·18 Maret 2025
Wenn der FC St. Pauli am Mittwoch nach Berlin reist, dann wird er auf einen Gegner treffen, der aktuell gegen den Abstieg spielt und das alles ganz anders geplant hatte.(Titelfoto: Peter Boehmer)
Mit 5:1 gewann Hertha BSC am vergangenen Sonntag die Partie bei Eintracht Braunschweig. Wie wichtig dieser Erfolg für das Team gewesen ist, zeigt der Blick auf die Tabelle: Bei einer Niederlage wären die Berliner punktgleich mit den auf Rang 16 liegenden Braunschweigern in die Länderspielpause gegangen. Nun sind es sechs Punkte Vorsprung. Das ist nicht viel, verschafft aber etwas Luft zum arbeiten.
Dabei hatte man bei Hertha BSC in dieser Saison ganz andere Pläne: „Wir wollen zu den Mannschaften zählen, die oben dabei sind“, erklärte Sportdirektor Benjamin Weber kurz vor Saisonauftakt. Bis Ende Oktober klappte das auch einigermaßen, nach zehn Spieltagen stand man mit 17 Punkten auf Rang fünf. Doch dann blieben die Ergebnisse aus, die Hertha verlor erst den Kontakt zu den Aufstiegsplätzen, entließ Trainer Christian Fiél im Februar nach vier Niederlagen in Serie (Stefan Leitl übernahm) und nach nur einem Punkt aus sieben Spielen fand man sich im März dann plötzlich im Abstiegskampf wieder.
Das ist also ganz sicher nicht das, was man sich von dieser Zweitligasaison erwartet hat. Was genau schiefgelaufen ist, wie ernst die Situation (auch finanziell) ist und wie sich Hertha BSC in der letzten Zeit entwickelt hat, dazu haben wir Marc Schwitzky, Co-Gründer des angesehenen „Hertha BASE“-Podcasts und arbeitet zudem als freier Mitarbeiter bei rbb24, ein paar Fragen gestellt.
Moin Marc, Hertha gewinnt gegen Braunschweig – trotzdem: Wie ernst ist die Gefahr eines Abstiegs?
Nach wie vor vorhanden. Es sind jetzt nur vier Punkte aus den letzten acht Spielen. Dementsprechend kann es sich ganz schnell drehen, denn das nächste Spiel ist gegen den KSC. Das muss Hertha nicht gewinnen, aber Braunschweig spielt gegen Münster. Wenn die das Spiel gewinnen und Hertha verliert, dann ist der alte Abstand von drei Punkten schon wieder hergestellt. Dementsprechend kann das alles wieder sehr schnell gehen, drastisch werden. Hertha hat keinerlei Konstanz diese Saison aufgezeigt und das gewohnte Gesetzmäßigkeiten im Fußball bei dieser Mannschaft nicht greifen, also alles, was Richtung Momentum geht. Diese Mannschaft baut nicht mal auf Siegen auf, nicht mal Siege können dieser Mannschaft irgendeine Form von Sicherheit geben. Ich habe eher das Gefühl, dass sogar gute Leistungen wieder direkt zu schlechteren Leistungen führen, weil ich immer wieder eine Form von Arroganz sehe. Man hat das Gefühl, wenn es zu viele Schulterklopfer gibt, dass diese Mannschaft im nächsten Spiel nicht wieder alles gibt.
Das war auch schon unter Leitl so. Sein erstes Spiel gegen Nürnberg war eine wirklich ordentliche Leistung. Wir hatten damals die zweitformstärkste Mannschaft der Liga total in Schach gehalten. Selbst ein 0:0 hat dazu geführt, dass die Mannschaft beim nächsten Spiel gegen Elversberg dachte: wird schon. Da ging das nach der ersten Halbzeit schon 0:4 aus. Dementsprechend kann man sich nicht darauf verlassen, dass die Mannschaft auf Siegen aufbaut. Deswegen wir die allergrößte Aufgabe sein, was diese Mannschaft noch nicht zeigen konnte: Serien starten. Man braucht mal vier, fünf Spiele wo man mal nicht verliert und am Sieg zumindest kratzt. Die Gier, den Willen, muss die Mannschaft erst beweisen. Dementsprechend ist die Gefahr nach wie vor groß. Auch weil ich das Gefühl habe, dass man Ulm, Braunschweig und Münster nach wie vor nicht abschreiben kann. Der Sieg war unglaublich wichtig, um die schwarze Serie zu beenden und den Abstand zu vergrößern. Trotzdem ist die Gefahr nach wie vor sehr groß.
Hat sich der Kader im Vergleich zu Vorsaison qualitativ verbessert? Wer sticht heraus?
Auf der einen Seite hat man mit Marc-Oliver Kempf und Haris Tabakovic zwei absolut zentrale Stützen verloren. Besonders Tabakovic hast du nicht ersetzt bekommen. Es kam Luca Schuler von Magdeburg, aber dem wurde beim FCM keine Träne nachgeweint. Ihm fehlt es sehr an Spielverständnis und Technik. Dementsprechend besteht der Mittelsturm eigentlich aus Smail Prevljak, den man loswerden wollte, Florian Niederlechner, der auf die 35 zugeht, und Luca Schuler, der noch nicht überzeugen konnte. Nicht ohne Grund stellte Steffan Leitl im letzten Spiel gegen Braunschweig Derry Scherhant und Fabian Reese in den Mittelsturm. Beide ja eher Außenstürmer. Das heißt hier hat man sich klar verschlechtert.
Im Mittelfeld waren eigentlich alle sehr vorfreudig auf die Saison, denn mit Michael Cuisance, Kevin Sessa und Diego Demme hat man drei große Namen geholt. Michael Cuisance hat sich auch definitiv bewiesen. Das Problem bei Kevin Sessa ist die Verletzungsanfälligkeit. Und bei Diego Demme gilt fast dasselbe, da hat man sich deutlich mehr versprochen, auch weil man ein Jahr auf ihn gewartet hat. Das Mittelfeld ist leicht verbessert im Vergleich zur letzten Saison, weil man eben Michael Cuisance dazugewonnen hat, aber nicht in dem Maße, in dem man sich es gewünscht hätte. Eigentlich hatte man gehofft, dass Pascal Klemens (als 19-jähriger) nicht schon wieder den gefühlten „Mini-Chef“ im zentralen Mittelfeld bilden muss. Das ist aber in weiten Teilen diese Saison so gewesen, weil eben Sessa und Demme kaum eingreifen konnten und Michael Cuisance auch ein anderer Spielertyp ist.
In der Verteidigung steht man insgesamt schlechter dar. Man hat mit Marc-Oliver Kempf den zentralen Innenverteidiger verloren. Er hatte keine leichte Vorsaison, aber war der Gewinner unter Cristian Fiél. Sein sehr später Abgang war ein harter Schlag, weil niemand sein Paket füllen konnte. Marc-Oliver Kempf ist auf der einen Seite ein überdurchschnittlich schneller Innenverteidiger, groß, kopfballstark und traut sich was mit dem Ball. Dieses Gesamtpaket hat kein Innenverteidiger. Màrton Dárdai hat „nur“ das Passspiel, Toni Leistner „nur“ die Kopfballstärke und diese Versatzstücke haben nicht wirklich gegriffen, um dieser Innenverteidigung eine Sicherheit zu geben. John Anthony Brooks kam als Kempf-Ersatz und hat sich im allerersten Training so schwer verletzt, dass er bisher keine Minute für Hertha gespielt hat. Ein Teil, warum die Saison gelaufen ist wie sie gelaufen ist, liegt auch an den Verletzungen. Wenn Brooks als Kempf-Ersatz fehlt, wenn Fabian Reese fehlt, wenn Kevin Sessa fehlt – dann ist das schon sehr viel. Aber der größte Fehler, der gemacht wurde, war, dass man keinen Ersatz für Tabakovic geholt hat.
Wer sticht heraus? Michael Cuisance hat gegen Braunschweig jetzt sein bestes Spiel gemacht. Fabian Reese ist nach wie vor der Unterschied-Spieler. Er hat nach seiner Verletzung kurz gebraucht, ist nochmal kurz ausgefallen, aber seit Jahreswechsel kommt er allmählich wieder in seine Form. Wir brauchen nicht darüber reden, dass Fabian Reese einer der besten Spieler dieser zweiten Liga ist. Man muss auch Derry Scherhant nennen, der sich in der Saison aus dem Schatten von Fabian Reese während seiner Verletzung herausentwickelte, ein wahnsinnig trickreicher, schneller Spieler. Manchmal sollte er etwas weniger egoistisch sein, aber er hat von Cristian Fiél unglaublich viel gelernt und profitiert.
Letzte Saison waren Dapo Afolayan und Jeremy Dudziak noch direkte Konkurrenten, doch aktuell sind Hertha BSC und der FC St. Pauli ziemlich weit voneinander entfernt. // (c) Peter Boehmer
Im Jahr 2023 hieß es, dass ein Wiederaufstieg bis spätestens 2025 gelingen müsste, andernfalls drohe der endgültige finanzielle Kollaps. Wie ist die Situation jetzt?
Hertha droht nicht mehr der finanzielle Kollaps. Das hat mehrere Gründe: Zum einen ist es so, dass die Konsolidierung angeschlagen hat. Hertha hat verstanden, was die Uhr finanziell geschlagen hat. Man ist deutlich verantwortungsbewusster, man hat extrem viel zurückgeschnitten auf der Geschäftsstelle und lebt deutlich sparsamer und genügsamer als noch zu „Big City Club“ Zeiten. Man konnte die Bremse treten, bevor man mit Voll-Karacho gegen die Wand gefahren wäre. Das zeigen auch die letzten Finanzberichte, dass man dahingehend sehr viel richtig gemacht hat. Der zweite riesige Punkt ist, die Nordic Bond Anleihe, die man auch nach dem Abstieg verlängern musste, woran auch die Lizenz hing. Davon konnte man sich trennen. Wenn man jetzt in der zweiten Liga bleibt, dann geht das klar. Die finaziellen Probleme liegen an der Nordic Bond Anleihe, die man verlängert hatte und die im November dieses Jahres fällig wird. Das sind auf einen Schlag 40 Mio. Euro. Man musste auch so viele Zinsen zahlen, dass der Gesamtbetrag über 50 Mio. Euro beträgt, aber diese Zinsen hat man fortlaufend schon bezahlt. Der reine Betrag von 40 Mio. wird aber fällig. Dafür hatte man sich einen Finanzführer mit Ralf Huschen dazugeholt vom FC Paderborn. Der unterstützt mittlerweile die Geschäftsführung und mit ihm zusammen hat man eine Lösung gefunden, die Anleihe im November zu bedienen.
Natürlich hängt man weiter am Tropf, da man auch diese Anleihe mit Krediten ablösen wird. Aufgrund der finanziellen Situation hätte es keine andere Lösung gegeben. Das Geld hat man nicht, also muss man das mit externen Partnern lösen, aber zu deutlich geringeren Konditionen als die Nordic Bond Anleihe. Es ist ein kleiner Brustlöser. Trotzdem: In der zweiten Liga mit den geringeren TV-Einnahmen und geringeren Ablösen, kann Hertha nicht gesunden. Du kannst den kompletten Kollaps verhindern, aber du wirst in dieser Liga Minus machen, wenn du historisch so groß gewachsen bist wie Hertha BSC. Der Etat wird weiter schrumpfen mit jedem Jahr, das man in der zweiten Liga verbringt. Das wird im Sommer, wenn man die Klasse hält, wieder ein krasser Etat-Cut. Da werden Stars wie Reese, Maza und Co gehen. Einige Verträge werden nicht verlängert von Spielern, wo man vielleicht gesagt hat, die halten wir vielleicht doch. Man wir immer weiter zu einem stinknormalen Zweitligisten schrumpfen. Die Chance aufzusteigen, schrumpft mit jedem Jahr, weil die individuelle Qualität des Kaders schrumpfen wird. Dementsprechend: Kollaps verhindert, aber es ist trotzdem ein gefühltes Dahinsiechen.
Nun steht das Testspiel gegen den FC St. Pauli an. Was erwartet Hertha sich davon?
Stefan Leitl ist noch nicht lange im Amt und vor seinem ersten Spiel gegen Nürnberg hatte er drei Trainingseinheiten. Jetzt hat er mal die Chance in Ruhe mit dieser Mannschaft zu arbeiten und mehr eigene Impulse zu setzten. Er hat bislang gesagt, dass er die Mannschaft taktisch nicht überfordern wollte, dass man sich an die einfachen Dinge gehalten hat. Vor allem in einfachen Ideen gegen den Ball. Offensiv hat man oft Freiheiten gelassen. Gegen Braunschweig hat man am meisten Laufwege im Offensivbereich erkannt. Da gab es zumindest ein bisschen Input. Ich glaube, dass man die Länderspielpause nutzen wird, um mehr eigene Impulse zu setzten, um bei den bisher eingeschlagenen Dingen auch mehr in die Tiefe gehen zu können. Bisher macht Leitl einen sehr aufgeräumten Eindruck auf mich. Er ist auch jemand, der schon öfter mitten in der Saison einsteigen musste, um schnell Dinge zu verändern. Er kennt das und macht das mit einer sehr großen Ruhe und Professionalität. Er wirkt manchmal fast schon unterkühlt, aber diese Ruhe tut grade ganz gut. Cristian Fiél war jemand, der sich im Stress verloren hatte und ausgefranst ist. Da ist Stefan Leitl klarer und dementsprechend wird das Testspiel dafür da sein. Ich glaube, dass man sich gegen den FC St. Pauli vor allem auf die Arbeit gegen den Ball fokussiert und man das dahingehend verfeinern will. Weil der FC St. Pauli unter Blessin einen starken Konterfokus hat und gerne tiefer verteidigt und man eigene Einsätze im Ballbesitz erkennen möchte. Das wird zweigeteilt sein. Die eine Halbzeit mit Ball die andere gegen den Ball.
Vielen Dank für die ausführlichen Antworten, Marc!
Bei Hertha BSC muss man also aktuell mit einer Situation klarkommen, die so nicht eingeplant gewesen ist. Vieles, vor allem die individuelle Qualität im Kader, deutet darauf hin, dass diese Situation die Hertha immerhin nicht im kompletten Fiasko endet. Doch auch ohne einen Abstieg ist ein weiteres Zweitligajahr alles andere als komfortabel für einen Club, der sich als Erstligist begreift und dort auch hin muss, um finanzielle Probleme in den Griff zu bekommen.
// Tim & Nina
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