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Matti Peters·1. Mai 2020
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Matti Peters·1. Mai 2020
Brasiliens Legende Ronaldo hatte viele Spitznamen. Sein wohl bekanntester lautete „Il Fenomeno“. Und das war er wirklich – ein Phänomen. Ein Ausnahmestürmer und einer der besten Kicker, die jemals einen Fußballplatz auf diesem Planenten betreten haben.
Heute fragen sich viele: War das nicht der dicke Ronaldo? Der mit der dreieckigen Frisur und der Zahnlücke? Nun, dieser dicke Ronaldo war zwei Mal Weltmeister, gewann zwei Mal den Ballon d’Or und war eine wahre Tormaschine. Einer, der eigentlich einen eigenständigen Legendenstatus verdient hätte und nicht nur als „der andere Ronaldo“ abgestempelt werden sollte.
Noch vor der WM 1994 stand der VfB Stuttgart kurz vor einer Verpflichtung des damals 17-Jährigen. A-Jugendtrainer Ralf Rangnick wurde von Manager Dieter Hoeneß höchstpersönlich mit dem Scoutingauftrag betraut. Ronaldo bestätigte einst sogar: „Stuttgart war der erste Klub weltweit, der sich für mich interessiert hat“.
Weil Cruzeiro Belo Horizonte 4 Millionen Euro verlangte, kam es aber nie zu einem Wechsel. Stattdessen wurde Giovane Élber geholt. Doch was wäre eigentlich passiert, wenn Ronaldo damals zum VfB gekommen wäre?
Ralf Rangnick kehrte im Frühjahr 94′ von seiner Mission am Zuckerhut zurück und fuhr direkt vom Flughafen in die Geschäftsstelle des VfB. Euphorisiert klopfte er wild an die Bürotür von Dieter Hoeneß. „Ralle, du bist ja vollkommen durch den Wind“, so die Begrüßung des Managers.
Die Schnappatmung erlaubte Rangnick nur ein paar vereinzelte Worte: „Dieter, der Junge isch ein Wahnsinn. Den müssen wir um jeden Preis holen. Der wäre eine unfassbare Bereicherung für den VfB, ach was sag ich… für die gesamte Menschheit.“
Um auch wirklich ganz sicher zu gehen, wurde Rangnick noch mal nach Brasilien geschickt. Doch er reiste nicht allein. Mittelfeldmotor Carlos Dunga war als Dolmetscher an seiner Seite und half dabei, die letzte Überzeugungsarbeit zu leisten. Der VfB ging All in. Selbst die geforderten 4 Millionen Euro kratzten die Schwaben zusammen – Rekordtransfer.
Getrübt wurde die Euphorie etwas, als sich der junge Angreifer in der Gruppenphase der Copa Libertadores einen Kreuzbandriss zuzog und so die Chance auf sein erstes Länderspiel verpasste. Auch die Teilnahme an der Weltmeisterschaft in den USA war für ihn damit gestorben.
Stattdessen nominierte Nationaltrainer Carlos Alberto Parreira einen aufstrebenden Stürmer von den Grasshoppers aus Zürich namens Giovane Élber. Der kam bei der WM zwar nicht zum Einsatz, sorgte mit einer nächtlichen Eskapade aber für Schlagzeilen. Selbst in der deutschen Teenie-Zeitschrift ‚Bravo Sport‘ wurde darüber berichtet.
Nach dem Triumph im Finale gegen Italien ließ der Angreifer es in Las Vegas richtig krachen. Der ein oder andere Shot mit NBA-Star Dennis Rodman und Carmen Electra im Blue Lagoon Nachtclub führte zu einem wilden Fotoshooting. Seine Karriere sollte davon aber nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.
Man könnte sagen, dass Ronaldos Verletzung zum Glücksfall für den deutschen Fußball wurde. Denn der Torjäger, von der überragenden Reha-Arbeit begeistert, fühlte sich nach nur wenigen Monaten in der Bundesrepublik und speziell am Neckar so heimisch, dass er sich dafür entschied, die deutsche Staatsbürgerschaft im Eilverfahren zu beantragen. Weitere Einladungen der Seleção schlug er aus. Auf Klubebene startete er dafür mit dem VfB richtig durch.
Mit 23 Toren in seiner ersten Bundesliga-Saison schnappte sich das Jahrhunderttalent direkt die Torjägerkanone und ballerte die Stuttgarter nach einer enttäuschenden Vorsaison wieder ins europäische Geschäft. VfB-Boss Gerhard Mayer-Vorfelder honorierte das feine Gespür von Hoeneß bei diesem besonderen Transfers mit einem langfristigen Vertrag. Der Manager sollte eine ähnliche Ära prägen wie sein Bruder im Nachbarstaat.
Ronaldos Wechsel nach Stuttgart war auch die Geburtsstunde des magischen Dreiecks, bestehend aus Krassimir Balakov, Fredi Bobic und natürlich Ronaldo selbst. Das Angriffstrio entwickelte sich zu einem der gefährlichsten im europäischen Spitzenfußball. Schon im zweiten Jahr spielte der VfB um die Meisterschaft mit und konnte den DFB-Pokal gewinnen. Jogi Löw war mittlerweile Cheftrainer, denn Jürgen Röber hatte sich mit der Klubführung überworfen.
Noch vor der EM 96′ erhielt Ronaldo die deutsche Staatsbürgerschaft und Berti Vogts rieb sich bereits die Hände. Als hätte er schon gewusst, dass der pfeilschnelle Angreifer im Finale für Deutschland das erste Golden Goal in der Geschichte erzielen würde. Kieferorthopäden in Deutschland beklagten in der Folge zunehmenden Rücklauf an Patienten, weil es auf einmal cool war, eine Zahnlücke zu besitzen.
Ein paar Danone-Werbespots und eine Gastrolle bei den Simpsons später, feierte der Ausnahmestürmer das kleine Triple mit dem VfB: Meisterschaft, Pokalsieg und Europapokal der Pokalsieger. Auch individuell ging es für Ronaldo ganz nach oben. Bei der Wahl zum Weltfußballer stach er Vorjahressieger George Weah und Alan Shearer aus.
Im Vorfeld der WM in Frankreich verlängerte er seinen Vertrag in Stuttgart um weitere vier Jahre. Bei seiner ersten Weltmeisterschaft trumpfte Ronaldo mit insgesamt sechs Treffern gehörig auf und gewann den Golden Boot vor Kroatiens Davor Šuker. Für den Titel reichte es da aber noch nicht, der spätere Weltmeister Frankreich war einfach zu stark.
Vier Jahre später in Japan und Südkorea konnte sich Deutschland dann endlich den vierten Stern sichern. Der Doppelsturm Klose/Ronaldo war wie ein Cheat-Code und der neue Bundestrainer Jogi Löw wusste aus der gemeinsamen Zeit beim VfB genau, wie er ihn einsetzen musste. Als Hommage an das magische Dreieck überraschte der mittlerweile 26-Jährige zudem mit einem sonderbaren Haarschnitt.
Das Endspiel gegen die Landsmänner aus Brasilien war speziell für Ronaldo eine emotionale Achterbahnfahrt. Oli Kahns frühen Patzer nutzte die Seleção zur Führung, doch Deutschlands Torgarant mit der Nummer 9 besorgte noch vor dem Seitenwechsel den wichtigen Ausgleich. Natürlich per Hacke. Zehn Minuten vor Schluss legte er noch den Siegtreffer von Bernd Schneider auf, woraufhin dieser von Ronaldo den Spitznamen „Weißer Brasilianer“ erhielt.
All die Jahre nach seiner Entscheidung, sich dem DFB-Tross anzuschließen, musste Ronaldo viel Kritik aus dem eigenem Land hinnehmen. Doch er bereute diesen Schritt keineswegs. Im Gegenteil. Es war für ihn beinahe schon eine Genugtuung, dem Team aus seiner Heimat die Stirn geboten zu haben. Das ließ zumindest ein späterer Werbespot vermuten.
Auch in den Folgejahren versuchten Spitzenklubs wie Barcelona, Inter oder Real immer wieder, den Superstar abzuwerben. Doch Ronaldo beendete seine Karriere in Stuttgart. Bei dem Verein, der in ihm nicht nur ein leicht zu vermarktendes Phänomen sah, sondern ihn mit Herz und Disziplin förderte.
Und Rangnick? Der sollte recht behalten. Ronaldo war eine unfassbare Bereicherung: Für den VfB, für die Bundesliga, für Deutschland und für die gesamte Fußballwelt.
Dieses Format soll dich in regelmäßigen Abständen in ein Paralleluniversum der Fußballwelt entführen. Du darfst dich also auf weitere Teile einer Serie von unterhaltsamen, lustigen oder sogar absurden Texten freuen.